Harry Kramer und Günter Grass

von | Feb 3, 2021 | Blick ins Depot, Wissen

Harry Kramer und Günter Grass – Begegnung in Paris 

Die Freundinnen der beiden, Helga Brauckmeyer und Anna Margareta Schwarz, sind Tänzerinnen. Helga Brauckmeyer bekommt eine lukrative Festanstellung in Paris und Harry Kramer stellt 1956 sein „Mechanisches Theater“ „13 Szenen“ im Rahmen des Pariser Festival „De l’Avantgarde“ aus. Günter Grass studiert Grafik und Bildhauerei zunächst in Düsseldorf und dann 1953-1956 an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin, aber seine Freundin will klassisches Ballett in Paris tanzen; und so ziehen sie 1956-1960 ebenfalls nach Paris.  
Die Paare treffen sich häufig und gern in derselben Bohème. 

Sprachliche Inspirationen aus einer Pariser Künstlerwerkstatt 

Günter Grass arbeitet in Paris am Manuskript für seinen weltberühmten Roman „Die Blechtrommel“. Harry Kramers Skulpturen werden das „Anschauungsmaterial“ für ein Kapitel der „Blechtrommel“ und das Vogelscheuchen-Ballett aus dem späteren Roman „Hundejahre“. In einem Brief beschreibt Günter Grass 2008 diese inspirierende Begegnung so: 
 „… Während meines Aufenthaltes in Paris in den Jahren 1956 bis Anfang 1960 waren meine damalige Frau Anna und ich oft und in freundschaftlichem Kontakt zu Harry Kramer und dessen Frau, die damals in dem Revue-Theater „Blue Bell Girls“ als Tänzerin fest angestellt war, also genügend verdiente, um Harry und gelegentlich auch Freunde wie uns, die wir alle knapp bei Kasse waren, zu verköstigen. Harry Kramer hatte sich im Schuppen eines Hinterhofes 
ein Atelier ausgebaut und dort entstanden aus Pappmaché geformte Figurinen, 
die zum Teil auf Rädern beweglich waren und die gewiß, wenn ich mich recht an unsere Gespräche erinnere – von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett inspiriert worden sind. Meinerseits hat Kramers Arbeit anregend auf die mechanischen Vogelscheuchen gewirkt, die in meinem späteren, aber schon in Paris konzipierten Roman »Hundejahre« eine Rolle spielen. Es war ein intensiver freundschaftlicher Kontakt, der sich leider verlor, als wir 1960 (Paris) verließen. Die Figur Eddi Amsels hat nur mit Harry Kramer zu tun, soweit diese fiktive Romangestalt der Erfinder der mechanischen Vogelscheuchen ist. Von seinen Texten habe ich leider nichts gelesen, und als Künstler sehe ich ihn als Außenseiter, der sich allen Ismen verweigert hat und der mir mit dieser Haltung sehr nahe ist. 
Freundlich grüßt … Günter Grass“. (Brief an Stefan Lüddemann 2008) 

Die Trommelmaschine aus der „Blechtrommel“ 

Oskar Matzerath beobachtet den Kartoffelhändler: »Im September zweiundvierzig – ich hatte gerade sang- und klanglos meinen achtzehnten Geburtstag hinter mich gebracht, im Radio eroberte die sechste Armee Stalingrad – baute Greff die Trommelmaschine. In ein hölzernes Gerüst hängte er zwei ins Gleichgewicht gebrachte, mit Kartoffeln gefüllte Schalen, nahm sodann eine Kartoffel aus der linken Schale: die Waage schlug aus und löste eine Sperre, die den auf dem Gerüst installierten Trommelmechanismus freigab: das wirbelte, bumste, knatterte, schnarrte. Becken schlugen zusammen, der Gong dröhnte und alles zusammen fand ein endliches schepperndes, tragisch mißtönendes Finale. Mir gefiel die Maschine.« 
 
In die Blechtrommel, die 1959 erscheint, hat Günter Grass die Selbstmordmaschine des Kartoffelhändlers eingefügt: „Und da ist eine ganz direkte Anlehnung an Apparate, in erster Linie von Harry Kramer. Mag sein, dass auch Tinguely eine Rolle mitgespielt hat, aber Harry Kramer war das für mich Anschauliche, was ich alle vierzehn Tage mal sah in Paris … 

Kaschierarbeiten und Mechaniken aus den „Hundejahren“ 


… Und daraus haben sich dann auch die Vogelscheuchen (in den „Hundejahren“, Anm. ST) weiterentwickelt. Die Ausführung bis in die Figur Kramers hinein, ja. Auch seine Art und Weise, wie er alltägliche Dinge, wie er sie, sowie er sich mit ihnen befasst, sofort ästhetisiert.“ (Interview 1983) 
 
Eddi Amsel kaschiert mit Zeitungsmakulatur und Tapetenresten, die er aus renovierten Wohnungen bezieht. […] Rollen Toilettenpapier, leere Konservendosen, Fahrradspeichen, Lampenschirme, Posamente und Christbaumschmuck bestimmen die Mode. Mit einem geräumigen Topf Kaltleim, mit Ersteigertem, Eingemottetem 
und Gefundenem zauberte er … gegen niemanden baute er, aus formalen Gründen. Allenfalls hatte 
er vor, einer gefährlich produktiven Umwelt seinerseits Produktivität zu beweisen … kam Amsel der amselsche Einfall, nicht waschechte Waisenkinder, sondern mechanische Waisen auf die Bühne zu stellen, weil, so behauptete er, nichts auf der Welt tiefer zu rühren vermöge, als eine zittrig laufende Mechanik; man denke nur an die rührenden Spieldöschen vergilbter Zeiten.« Eddi baut »komische Waisenkinder und Bräute aus Watte und Toilettenpapier«, aber auch »SA-Männer, die marschieren und grüßen können, weil sie im Bauch eine Mechanik haben«. 

Unterschiedliche Lebenswege

Sie haben sich wieder aus den Augen verloren: Helga Brauckmeyer bekommt ein Engagement nach Los Angeles, Günter Grass zieht wieder nach Berlin. Harry Kramer folgt seiner Freundin nach Amerika, geht aber sonst seiner eigenen künstlerischen Wege. 1959 wandte er sich endgültig den automobilen Skulpturen und seinem späteren künstlerischen Weg zu. Theaterfiguren baute er danach nicht mehr. 

Sonderausstellung Fundsache Kramer


Die Tagung 2012 ist zusammen mit dem Günter-Grass-Haus in Lübeck organisiert worden. Begleitend zur Sonderausstellung ist 2012 der Tagungsband „Fundsache Kramer +++entdeckt+++erkundet+++entwickelt+++“ erschienen. Dort sind o.g. Zitate veröffentlicht. Er ist im Theaterfigurenmuseum erhältlich. 
 

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