„Als ich mit dem Figurentheater anfing, wollte ich kein Kasperspieler sein. Ich wollte ja Künstler sein.“
Frieder Kräuter merkte schnell, dass sich beides nicht ausschließt. Nach 35 Jahren hängt er sein Handpuppenensemble nun zumindest hauptberuflich an den Nagel. Jedoch nicht ohne noch einmal mit einem Kasperstück auf Tournee zu gehen und damit auch in Lübeck beim Figurentheaterfestival zu gastieren.
Mit „Kasperblues – Liebe, Schnaps und Rebellion“ verbinden er und sein Puppentheater Gugelhupf aus dem Schwarzwald den altgedienten Jahrmarktskasper als Wurzel des Figurentheaters mit dem Blues, der gemeinhin als Wurzel moderner Musik von Hip-Hop bis Heavy Metal gilt. Für Kräuter funktionieren beide in ihrer Grundform gestern wie heute. Was die einen primitiv nennen würden, nennt der Kasperspieler reduziert und damit vielseitig.
Die Kaspergeschichte ist schnell erzählt: Kurzerhand prügelt sich dieser kleine Anarchist seit 150 Jahren jeden Abend durch die Jahrmärkte und Bühnen. Da wird die irdische Obrigkeit verdroschen und sogar vor Tod und Teufel nicht halt gemacht.
In „Kasperblues“ sieht sich der Held somit nicht mit einem unzufriedenen Publikum, wohl aber mit einem mürrischen Ensemble konfrontiert, dem die immer gleichen Rollen inzwischen zuwider sind. Natürlich ist es der Teufel, der eine Intrige ausheckt und die Rebellion anzettelt. Mit viel Rhythmik und Musikalität jagt Frieder Kräuter durch die alte und neue Welt des Kaspertheaters und bleibt den Wurzeln doch immer treu. Dass im Rahmen des Figurentheaterfestivals gleich drei Kasperstücke auf dem Programm stehen, freut ihn: „Das haben lange Zeit nur wenige gemacht – jetzt erinnern sich einige zurück.“
Archetyp oder doch schon Hologramm?
Für Christiane Klatt von puppen etc. ist der Jahrmarktskasper gar nicht so aus der Zeit gefallen. Sind es nicht die gierigen, narzisstischen Figuren, mit denen sich viele Menschen auch im 21. Jahrhundert noch gern identifizieren? Insbesondere die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Figurentheater beschäftigen sie seit nunmehr 15 Jahren. In ihrem aktuellen Stück, PLING! Kasper mach(t) das Licht an, knallen analoge und digitale Welten ebenso brutal aufeinander, wie Kasper die Pritsche schwingt. „Im Film sind wir mittlerweile beim fünf Sekunden-Schnitt angekommen. Ich wollte wissen, ob es möglich ist, diese Dynamik mit meiner analogen Kunst abzubilden“, erklärt die Puppenspielerin aus Berlin.
Ausgangspunkt ist eine moderne Faustgeschichte, denn aus dem Kasperensemble kommt dem Teufel die Rolle des Strippenziehers zu, der nichts anderes als eine digitale Diktatur errichten will – auf ganz freiwilliger Basis. Alle stereotypen Figuren vom Kasper über Gretel bis hin zur Großmutter werden mit den Verheißungen des neuen Systems gelockt und bei ihren Bedürfnissen abgeholt. Es riecht nach Individualität, nach Likes und Anerkennung, nach Aufstieg im digitalen Kastensystem.
„Da entstehen viele witzige Situationen, aber das Lachen bleibt einem bisweilen auch im Halse stecken“
Als Denkanstoß ist das Stück auch gedacht. Es fragt danach, ob wir uns mit ständiger Präsenz im Netz, dem Zwang alles Persönliche zu teilen, freiwillig in neue Abhängigkeiten begeben. Es ist aber auch eine sehr persönliche Auseinandersetzung der Künstlerin mit der Frage, welches Theater sie machen darf und möchte. Vielleicht ist es auch nur die bescheidene Bitte, in all der rasanten Entwicklung eine Pause einzulegen, um überhaupt darüber nachdenken zu können.
Gretel statt Quote
Zeit haben sich die Macher:innen des Theaters Blaues Haus in Krefeld tatsächlich genommen, denn über einige Jahre hinweg hatte ihr aktuelles Stück nicht mehr als einen Namen. Doch der war einfach zu gut, um kein Stück daraus zu machen. In einer regen abendlichen Diskussion um eine allgegenwärtige Erotikroman-Serie entstand die Idee zu „Fifty Shades of Gretel“. Im Austausch mit Regisseur René Linke entwickelten Stella Jabben und Volker Schrills eine Backstage-Komödie mit Tiefgang. Grundlage bildet auch hier das klassische Kasper-Ensemble mit seinen deutschen Prototypen. Die Zuschauer:innen werden insbesondere konfrontiert mit den Figuren hinter den Rollen. Da ist der alte, weiße Mann, eher platt und rüpelhaft, der es gewohnt ist, die Ansagen zu machen. Der Räuber ist ein revolutionärer Typ, die Großmutter mittlerweile dement und die Beziehung des alternden Pärchens Kasper und Gretel hatte auch schon bessere Zeiten.
Als dann auch noch die Theatersäle leer bleiben, beschließt Gretel aktiv zu werden und will die anderen überzeugen, diesen bestimmten Erotik-Bestseller auf die Bühne bringen. Turbulent und witzig geht es letztlich auch darum,
„Probleme gemeinsam zu lösen und sich trotz aller Unterschiede nicht in eine Ecke zurückzuziehen“
Entwicklung funktioniert, wenn sich alle ein bisschen bewegen und sich doch nicht selbst verlieren. Die drei Kasperstücke, die diesen Herbst das Lübecker Figurentheaterfestival bereichern, haben ganz unterschiedliche Geschichten aus einer archetypischen Erzählung gemacht, Stereotypen aufgebrochen und die Fäden doch wieder mit ihrem Ursprung verbunden.
Zum diesjährigen Motto des Festivals, ALLEIN ist kein SEIN, tragen sie ebenso bei, denn wo Kaspertheater draufsteht, steckt stets ein ganzes Ensemble drin.