Vor allem die intensive Fernseharbeit machte die Augsburger Puppenkiste sehr schnell populär: Sie hat sich mit unzähligen Sendungen über knapp 70 Jahre tief in das (west-)deutsche kulturelle Gedächtnis eingegraben. Viele Sendungen sind auf DVD erhältlich, die Jugendbücher sind heute noch Bestseller. Da die Familie das meiste gebaute und geschnitzte Material aufgehoben hat, kann sogar der 1992 gegründete Förderverein ab 1995 das eigene Museum betreiben: Die Kiste.
Am 29. Juli 2013 trat die Augsburger Puppenkiste mit dem Stück "Urmels große Reise" im Figurentheater Lübeck auf. Kinder und Erwachsene standen bis auf die Straße an, um Urmel, Mama Wutz, Professor Habakuk Tibatong und einige andere Stars aus „Urmel aus dem Eis“ live zu sehen. Mit dem Gastspiel „Urmels große Reise“ bewies die Augsburger Puppenkiste, wie populär die Geschichten und die Figuren bis heute sind.
Doch wie entstand diese Popularität?
Ein gut vernetztes Family Business
Walter Oehmichen (1901-1977) war bis 1945 Schauspieler, Oberspielleiter am Augsburger Stadttheater, Landesleiter der Reichstheaterkammer und in der Schauspielszene gut vernetzt und beliebt. Er wollte nach dem Krieg ein eigenes Marionettentheater eröffnen. Seine Frau Rose (1901-1985) war ebenfalls Schauspielerin, die für die beiden Töchter den Beruf aufgab. Sie konnte nähen und hielt zu seinen Plänen: Die Augsburger Puppenkiste, die erst nach der Entnazifizierung von Walter Oehmichen 1948 eröffnet werden konnte, wurde ein gemeinsames Projekt. Beide waren regelrechte Arbeitstiere. Es gelang ihnen, auch beide Töchter für das Marionettentheater zu begeistern. So etablierte sich von Anfang an ein fleißiger, zielstrebiger, patriarchaler Familienbetrieb. Vor allem die jüngere Tochter Hannelore (1931-2003) lernte schon beim Vater schnitzen und richtete ihre spätere bildnerische Berufsausbildung ganz auf den beruflichen Einstieg in das Theater aus.
Walter Oehmichen hatte aus seiner Schauspielerzeit viele Kontakte; mit der Fähigkeit, überhaupt andere für die Idee eines Marionettentheaters zu begeistern, traf er immer wieder auf enthusiastische und langjährige Mitarbeiter:innen.brEiner der wichtigsten wird sein Sprecher, Dramaturg und Regisseur für die Fernsehinszenierungen Manfred Jenning (1929-1979). Dessen Nachfolger ab 1980-1992 wird Sepp Strubel. Aber auch viele andere junge Leute aus der Generation der Töchter lassen sich für die Mitarbeit begeistern und bleiben z.T. jahrelang dabei. Hannelores späterer Ehemann Hanns-Joachim Marschall wird das Theater einmal geschäftstüchtig ganz übernehmen.
Regionale und westeuropäische Tourneen
Der Spielort, ein unzerstörtes Spital aus dem 17. Jahrhundert mitten in Augsburg, in dem sich zunächst auch die Werkstätten und das umfangreiche Lager befinden, wird bis heute erfolgreich betrieben. Die kulturpolitische Unterstützung bleibt nicht aus. Die Bühne wird gefördert unter der Auflage, auch überregional tätig zu sein. Tourneen durch Deutschland, Schweiz und Westeuropa schließen sich den städtischen Auftritten an. Das Ensemble mit Spielerinnen und Technikerinnen wächst.
Zielgruppe: Bildungsbürgertum der Wirtschaftswunderzeit
Mit der Auswahl der Stücke – Märchenadaptionen, bekannte Stoffe wie Faust, Leonce und Lena, Peter und der Wolf, später auch Dürrenmatt und Brecht – beweist Oehmichen eine publikumsfreundliche und bildungsbürgerliche glückliche Hand. Der Kasper soll ein lustiger liebenswerter Bursche sein.brVor allem mit Der kleine Prinz – das Buch wurde inszeniert, sobald die deutsche Übersetzung 1951 erschien – erspielt sich die Augsburger Puppenkiste einen großen überregionalen Erfolg.brWalter Oehmichen spielte als Schauspieler den Flieger zu den Marionetten. In der Dreigroschenoper (1960) spielte er den Moritatensänger neben den Marionetten. Sonst aber werden von Anfang an Sprecherinnen und Spielerinnen getrennt. Man legt großen Wert auf gute, trainierte Stimmen. Als die Tonbandtechnik unkomplizierter wird, werden sofort Playback-Bänder mit professionellen Schauspielerstimmen erstellt.
Frühe Adaption eines neuen Mediums: Fernsehen
1952 wird zum ersten Mal eine Sendung im Fernsehen ausgestrahlt. Oehmichen wird angesprochen und steigt mit Peter und der Wolf 1953 in die Fernseharbeit ein. Auch hier hat er Kontakte, die ihm jahrzehntelange Produktionen im BR und v.a. HR sichern. Während zunächst einfach Aufführungen abgefilmt werden, professionalisieren sich Film- und Aufnahmeverfahren nach und nach. Manfred Jenning übernimmt Ende der 50er Jahre die Fernsehdramaturgie. Er führt die beliebten Mehrteiler ein. Die jüngere Generation bringt nun neue Jugendbücher und andere Autor:innen ins Spiel: Michael Ende, Max Kruse, Paul Maar, Ellis Kaut … Hier zahlt sich aus, dass von Anfang an zwei Generationen die Puppenkiste prägen. Die Autoren, hier besonders Max Kruse (1921-2015), sind offen, arbeiten gern eng mit dem Ensemble zusammen. Manchmal entsteht ein Buch auch erst nach der Fernsehinszenierung.
Für die Fernsehadaptionen, die in den spielfreien Sommerzeiten nicht im Fernsehstudio, sondern direkt im Foyer der Puppenkiste gedreht werden, wird das ganze Haus zum Studio mit Werkstätten. Viele Kulissen werden extra angefertigt, mit Musik- und Bildschnitten geschickt viele Spielorte aneinandergefügt, und Umbaupausen gehören nicht mehr ins Bild. Es entstehen die vielen bekannten und beliebten Puppenfilme. Deren Helden werden wegen des ganz anderen bildnerischen Aufwandes (häufige Szenenumbauten, Kameranahwirkung der Figuren) nicht im Theater gezeigt. Eine Variante von Urmel gibt es heute zwar als offen gespielte Tourneeinszenierung mit 1:1 Duplikaten der Originalfiguren; sie hat aber mit den Fernsehsendungen wenig zu tun. Diese Inszenierung wurde im Figurentheater Lübeck 2013 erfolgreich gespielt im Rahmen der Ausstellung „Die Augsburger Puppenkiste – Stars an Fäden zu Gast in Lübeck“.
Das Spiel mit dem Niedlichkeitsfaktor in einer “Heilen Welt”
Ab 1953 spielt die Augsburger Puppenkiste im Fernsehen mit. Ihre Ausstattungen sind dezent farbenfroh und auf die Größenverhältnisse und die Wirkung der Marionetten geschickt abgestimmt. Oft kontrastiert das Bühnenbildmaterial wirkungsvoll mit den Figuren. Die Filme gehen über die Jahre mit den beliebten Jugendbüchern mit – der Buchmarkt profitiert von den Inszenierungen und umgekehrt. Dazwischen werden auch immer mal wieder Sendungen eingestreut mit unbekannteren Plots. Die Augsburger Puppenkiste ist so beliebt, dass sie sich das leisten kann. Neben den niedlichen Märchen werden heitere Geschichten aus einer heilen Welt gezeigt. Aber es sind nicht unbedingt Familiengeschichten: Freunde lassen die Vergangenheit hinter sich, Freunde bestehen Abenteuer, akzeptieren ihre Unterschiedlichkeit, halten zusammen. Die freundliche Stimmung der Filme und der Theaterinszenierungen bringt es mit sich, dass die ersten kleinen Besucher:innen mittlerweile mit ihren Enkeln ins Theater kommen oder die DVDs angucken.
Rigorose Stringenz als Bestandteil der Marke
Hannelore Oehmichen schnitzt jahrzehntelang im Keller; ihr Mann Hanns-Joachim Marschall (1927-1999) übernimmt 1972 in zweiter Generation v.a. die kaufmännische Leitung des Theaters bis 1992; ihre beiden Söhne Jürgen und Klaus wachsen in dieser Atmosphäre auf. Jürgen (1958-2020) wird weiterschnitzen. Klaus Marschall (*1961) leitet das Theater heute. Hannelore Oehmichen hält sich mit ihren Figuren nah an den Illustrationen der Kinder- und Jugendbücher. Die Augsburger entwickeln eine lange Marionettenschnürung für ihren Guckkasten. Während sich im puppenpielerischen Umfeld viele Gedanken über Gewichtungen und Gelenkverbindungen, über Spielkreuze und Schnürungstechniken gemacht werden, bleibt Hannelore den Ringschraubengelenken und Bleigewichten in den Schuhen treu. Der sich daraus ergebende typische charmant-zappelige Gang der Augsburger Marionetten bleibt über die Jahrzehnte gleich; für Klaus Marschall sind das heute Zeichen der Marke Augsburger Puppenkiste.
1996 gewinnt die Augsburger Puppenkiste Warner Brothers als Co-Produzent für den erfolgreichen Kinofilm Monty Spinneratz, der 1997 in die Kinos kommt.
Walter Oehmichen betreibt von Anfang an gute Werbestrategien. Die überregionale Theaterarbeit wird immer wieder von aufwändigen Publikationen und natürlich Presse begleitet. Der typische Kistendeckel mit dem bekannten Schriftzug begleitet die Bühne über die Jahrzehnte.
Im September 2020 veröffentlicht der Schriftsteller Thomas Hettche den modernen Phantasie-Roman Herzfaden, in dem die Geschichte der Augsburger Puppenkiste eindrucksvoll die zentrale Rolle spielt. Mit diesem Roman wurde Hettche für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert.
Durch stringentes Familienbusiness, geschmackvolles Gefühl für den bildungsbürgerlichen Zeitgeist und eine ausgesprochen erfolgreiche mediale Präsenz gilt die Augsburger Puppenkiste bis heute schon fast als Synonym für west-deutsches Puppenspiel.
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