Harry Kramer (1925-1997), Sohn eines Handwerkers, der in Eisenbahnausbesserungswerken zunächst in Lingen und später in Neumünster arbeitet, ist ausgebildeter Frisör, Panzergrenadier, Stepptänzer. In seiner Kindheit und Jugend lernt er gucken, lernt Maschinen – Eisenbahnen, Schienen, Lokomotiven – kennen, lernt spotten. Danach geht er zur Ausbildung in modernem Ausdruckstanz nach Hamburg. Es folgen trotz seiner Körpergröße von nur 1,65 m Engagements und Erfolg in Hamburg, Bielefeld und Münster, wo er seine langjährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau, die Tänzerin Helga Brauckmeyer (1929-2017), kennenlernt. (BLOG Beitrag Grass & Kramer)
Harry Kramers Mechanisches Theater „13 Szenen“
Am 15.4.1955 hat Harry Kramers Mechanisches Theater „13 Szenen“ in der Galerie Springer am Kurfürstendamm Premiere. Ein zweites Programm: „Signale im Schatten“ folgt.
„13 Szenen“ besteht aus skurril-abstrakten Skulpturen, die von zwei den Spielern in collageartig angeordneten Szenerien auf einer schwarzen Bühne in Bewegung versetzt werden zu kleinen Musikstücken, Jazz und musique concrète – zusammengestellt bzw. komponiert von Wilfried Schröpfer. „Signale im Schatten“ braucht keine Spieler mehr, die Figuren bewegen sich mechanisch angetrieben durch den breiten, sehr niedrigen Guckkasten-Bühnenraum.
"Marionetten" sind bei Harry Kramer in den 50er Jahren keine schönen Figuren.
Sie sind steif, fremd, es sind durch den Krieg, durch Arbeit, durch Alter verformte Körper: fast Objekte zu nennende, geschnitzte oder modellierte Skulpturen, deren überraschende und doch monotone Bewegungen irritieren und berühren. Sprache interessiert ihn nicht – eher interessieren Materialstrukturen, Farben, Licht- und Schattenspiele auf eigenartigen, sorgfältig gestalteten Oberflächen.
Kramer baut aus Draht, Papier, Leim, Holz seine Maschinen, Köpfe, menschlichen Torsi, Figuren an Drähten. Er kaschiert feines Papier in vielen Schichten über Ton, den er dann herauskratzt. Die Oberflächen sind geglättete, schlichte Formen – sie leben in der Bewegung durch Schattenwürfe, manchmal glänzen sie. Er kombiniert sie mit gefundenen Gegenständen – Blechbüchsen, Kleiderbügel, einem Brummkreisel aus Blech – und erfindet eine groteske, atemlose, durch Metronom und Kreis- und Pendelbewegungen organisierte mechanische Gestik.
Maschinen, Figuren, Materialien - alles ist Skulptur und darüber hinaus vergänglich – so vergänglich wie das Licht, das darüber streift.
Harry Kramer, der Tänzer, ist in Bau und Bewegung Perfektionist. Den Spieler sieht man nicht; die Erzeugung der Bewegung ist uninteressant. Es geht um die Bewegung selbst: ausgedrückt mit bewegtem Licht, mit Motoren, mit bewegter Mechanik, „automobil“ eben oder mit dem „Tanz“ des menschlichen Körpers darin. Und dies alles ohne Sinn, leer, ohne Nutzen, ohne Funktion. Eine vergängliche und verletzliche Anarchie. Und alles ist der Unerbittlichkeit eines Metronoms unterworfen.
Mechanik – ein dramaturgischer Kunstgriff.
„Mechanisch“, so Harry Kramer 1960, „bezieht sich nicht auf die verwendeten Maschinen, sondern bezeichnet die Motorik des Handlungsablaufs, also einen dramaturgischen Kunstgriff. Das mechanische Theater produziert: den Ablauf kreisender, federnder, vibrierender Elemente, mechanisch und pseudomechanisch getriebener Maschinen, eine Landschaft von Bildsäulen, Denkmälern, Zerbrochenem, Verlorenem, Vergessenem, die vom tastenden Licht ins Blickfeld gesogen wird, einen Zustand unaufhörlicher Bewegung, schlaflos, gequält, ohne Bedeutung.“
Harry Kramer und die Kunstszene
Irgendwann in den 90er Jahren erwirbt Fritz Fey jun. u.a. einige Figuren aus dem 1. Programm des Mechanischen Theaters „13 Szenen“. Die meisten Figuren aus „Signale im Schatten“ hatte Harry Kramer schon früh an die Puppentheatersammlung München gegeben. Da Fey sich anscheinend nie von seiner Kamera getrennt hat, konnte er Harry Kramer auch noch interviewen und bei Spiel und Reparaturarbeiten filmen.
Die Neuerwerbungen verschwinden im Depot und in den Vitrinen der Dauerausstellung. Sie gelten als verschollen, im Werkverzeichnis klaffen Lücken …
Da knüpft das Theaterfigurenmuseum Kontakte in die begeisterte Kunstszene. Mit der Sonderausstellung „Fundsache Kramer“ 2012 können nicht nur Harry Kramers Werkverzeichnisse ergänzt werden. Ein internationales Symposium zu Kramer, eine Lesung, eine Filmnacht und zwei studentische Arbeiten (ein Ensemble aus der Filmhochschule Kassel und ein Solist aus dem Studiengang Figurentheater aus Stuttgart) schließen sich an, ein Tagungsband erscheint, alte Freunde von Harry Kramer treffen hier wieder einmal zusammen.
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