„Die Engelfrau in Himmelblau“ das Gespräch mit einem Engel

von | Dez 21, 2020 | Blick ins Depot

Dr. Helga Werle-Burger beschrieb die Engelfrau in Himmelblau im Katalog der Museen in Schleswig-Holstein Nr. 35 wie folgt: „Meisterwerk von Karl Winter sen. aus der Jahrhundertwende, nordische Schönheit mit blauen Glasaugen und blondem, wallendem Haar. Ihre Robe ist aus changierender Seide mit Goldbandbesatz. Ihre roten, vollen Wangen und Lippen lassen sie strahlen vor Schönheit.“ Datiert wird sie ungefähr auf das Jahr 1890. 

Dieser kleinen Persönlichkeit begegnete ich kürzlich, und es ergab sich folgendes Gespräch: 

 „Schön Sie zu sehen!“, begrüßte ich die Figur.  

Die Engelfrau entgegnete mir: „Wundert Sie das? Es ist Weihnachtszeit. Da wird das Geflügel rausgelassen!“ 

„Geflügel?“, fragte ich verdutzt. 

Die Engelfrau meinte lakonisch: „Geflügel! Oder haben Sie keinen Engel aus ihrem Schrank geholt, um die Wohnung weihnachtlich zu schmücken? “ 

„Doch schon… Aber Sie sind doch kein Geflügel!“ 

„Richtig, ich bin Schauspielerin im Ruhestand.“, trumpfte sie auf und erklärte: „Ich war der Star bei Schneewittchen. Wenn ich zu Zithermusik das Schneewittchen im Wald segnete, war das ein Höhepunkt des Märchens. Ich gehöre zum Marionetten-Ensemble der Familie Winter.“  

„Und nun sitzen Sie hier im Depot und träumen von Ihren Auftritten?“, wollte ich wissen. 

„Dachten Sie etwa, ich liege die ganze Zeit faul in der Kiste?“, fragte mich die Engelfrau eingeschnappt.  

„Eigentlich schon! Ähm, da gehört diese Marionette doch hin…“, dachte ich und fing an, mich etwas zu gruseln.  

Daher lenkte ich ab: „Ich habe gelesen, dass die liebevoll geschnitzten Marionetten der Familie Winter bekannt waren für den sogenannten „Winterblick“, der stets etwas Verträumtes hatte!“ 

Die Engelfrau entgegnete mir: „Na also! Für meinen verträumten Blick kann ich nichts. Außerdem wollte ich mal sehen, was im Depot so los ist! Sie müssen aber noch eine ganze Menge aufräumen!“.  

Ihr vorwurfsvoller Ton war nicht zu überhören. 

„Wir haben aber schon sehr viel geschafft und wir sind fleißig dabei, alles zu ordnen und zu sichten! Bei der großen Menge an Figuren, Requisiten und Bühnen im Depot braucht es auch eine Menge Zeit.“, erklärte ich ihr. 

Sie nickte nachdenklich und fragte dann mit suchendem Blick: „Bühne! Wo ist eigentlich meine Bühne?“  

„Sie meinen die transportable, barocke Winter-Bühne?“, fasste ich nach. 

„Richtig! Die prachtvolle Bühne von 1922 mit den gemalten bläulichen Marmorsäulen, den wundervoll roten Samtvorhängen und den goldenen Kordeln hatte die Traummaße von 4,8 Meter Breite, fast 2,5 Meter Höhe und fast 2,5 Meter Tiefe. Drei Puppenspieler konnten gleichzeitig verdeckt auf der Bühnenkonstruktion stehen und uns Marionetten animieren. Die Seitenkulissen konnten sieben Mal variiert werden. Das war magisch! Und mit den herrlich bemalten Rolldekorationen, den sogenannten Prospekten, die mit ausgefeilter Technik hochgezogen werden konnten, wurden die Szenerien blitzschnell gewechselt. Glauben Sie mir, das war Zauberei!“, antwortete sie. 

„Sie kommen ja richtig ins Schwärmen!“, stellte ich fest. 

Die Engelfrau schaute mich mit ihren blauen Augen an, holte Luft und fuhr fort: „Das ist noch nicht alles! Die Winters haben uns Schauspieler perfekt versorgt! Unsere Kostüme wurden regelmäßig gewaschen und vor jedem Auftritt gebügelt. Ach, und die Frisuren! Selbstverständlich wurde meine Haarpracht auf Lockenwickler gedreht und vor jedem Auftritt wurde ich schön zurecht gemacht. Wie kann ich da nicht schwärmen? Sie sehen doch, dass ich mich sehr gut gehalten habe! “ 

„Nun, Sie sehen wirklich gut erhalten aus!“, erklärte ich der Engelfrau. 

„Pah! Die Bezeichnung „großartig“ hätte ich besser gefunden! Ich weiß zwar, dass an meiner Nase die Farbe etwas abgeplatzt ist und meine rechte Flügelspitze hat unten einen Knick. Aber ich habe immer noch schöne Haare und keine Falten! Anders als Sie!“, teilte sie aus. 

„Na toll! Ich diskutiere nicht mit der Marionette über mein Aussehen. Außerdem, so alt wie die Engelfrau, werde ich sowieso nie!“, dachte ich angefasst.  

Wir schwiegen eine Weile. 

„Und? Gibt es die Bühne noch?“, unterbrach die Marionette die Stille.  

„Tatsächlich ist die Bühne mit ihren 36 Teilen plus 18 Teilen für eine Erweiterung vollständig erhalten. Aber aus Platzgründen ist sie zurzeit nicht aufgebaut. Auch Ihre Schauspielkolleginnen und Kollegen sind alle noch da. In diesem Jahr wurden zum Beispiel der Heilige Georg und der Drache in unserem Blog vorgestellt! Sie hatten quasi einen kleinen Auftritt! Und wenn eines Tages der Umbau des Museums abgeschlossen sein wird, dann könnte es sehr gut sein, dass die Besucherinnen und Besucher immerhin die schönen Marionetten der Marionettenspieler-Dynastie Winter zu sehen bekommen!“, erklärte ich. 

„Die Königin, die drei Edelmänner, die Resl oder der Faust? All die schönen Marionetten und vielleicht sogar ich? Darauf freue ich mich jetzt schon!“, rief lächelnd die Engelfrau und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Wenn es in Ordnung ist, möchte ich hier noch ein bisschen sitzen und träumen. Ich wünsche Ihnen aber eine schöne Weihnachtszeit und ein gesundes neues Jahr!“ 

Es war Zeit, mich zu verabschieden: „Sie dürfen gerne noch verweilen! Frohe Weihnachten! Und vor allem Gesundheit!“ 

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2 Kommentare

  1. Stephan Schlafke

    Eine Meisterin des Interviews! Vielen Dank hat Spaß gemacht zu lesen!

    Antworten
  2. Ulrike Sonnenberg

    Das freut mich sehr! Es hat aber auch viel Spaß gemacht, diesen kecken Engel zu interviewen! Ich wünsche frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr 2021!

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